Stephen Blaubach - Cafe Linus

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Stephen Blaubach

Stephen Blaubach ist der Gewinner des Rixdorfer Poetryslam vom 11.08.2014
mit einem wunderschönen Beitrag über das Cafe Linus:

Hier keine Kunst oder 48 min bei 48 h Neukölln
Nicht überall in Rixdorf , dass ja heute eher unter dem Titel Neukölln bekannt ist, gibt es Rixdorfer Fassbrause. Dafür gibt es in Rixdorf, denn es ist ja heute Neukölln , jede Menge Kunst, Kultur, Projekte, Ausstellungen, Lesungen, Performances , Installationen, Führungen, Vorführungen, Filmvorführungen, Interventionen und Aktionen. Besonders viele davon und alle gleichzeitig bekommt der Rixdorf- bzw. Neuköllnbesucher -bewohner oder versehentlich dort Anwesende beim Kunstfestival 48 h Neukölln geboten: 48 h lang von Freitag 19 bis Sonntag 19 Uhr in zahllosen Variationen. Alles scheint gut geregelt. Die Künstler haben ihre Kunst, die Besucher bestaunen das oder ignorieren es gnädig. Die Neuneuköllner sind in Aktion. Die Alteingesessenen machen mit oder lassen sich nicht weiter stören. So etwa schien es mir jedenfalls, als ich durch die Böhmische Straße lief, die den historischen Dorfkern von Rixdorf halbkreisförmig umringt und in die Hertzbergstr. einbog. Ich hatte in den ersten 48 Minuten schon 3 Galerien besichtigt und mich anschließend mit einem reflektierten aber anstrengenden Projekt namens „Kapitalismusmuseum" auseinandergesetzt und überlegte , ob das nicht eigentlich genug ist für einen Tag. Auch in der Hertzbergstr. deutete vieles auf eine hohe Dosis ambitionierter Kultur hin. An mehreren Lokalen prangte deutlich das offizielle Festivalplakat mit einer großen digitalen 48 und dem Slogan „Hier ist Kunst". Selbst vor der Kiezkneipe Cafe Linus saßen 3-4 entspannt wirkende Menschen unter diesem Plakat und lächelten in die Sonne. Doch irgendetwas schien anders zu sein, irgendwas atmosphärisches. Ich schaute nochmal hin: „48 Stunden Neukölln – hier Keine Kunst" stand da im exakt gleichen Design. Die Persiflage erschloss sich erst auf dem zweiten Blick und war so gesehen schon wieder Kunst. Zumindest die erste die mich erheiterte. (was wiederum buchstäblich keine Kunst ist) „Sie lachen" sagte eine vor Kneipe auf der Bank sitzende Frau „ Aber gestern kamen hier dauernd welche rin und fragten wo hier die Kunst ist und welche Projekte wir haben, und da dann niemand Projekte entdeckte, dachten wir uns eh die noch denken dass vielleicht sogar unsere Fliesen Kunst sind……." „Unsere Kunst kommt vom Fass" sagte irgendjemand. „ahh.. Rixdorfer Fassbrause" vermutete ich. Ich vermutete falsch. Rixdorfer Fassbrause gab es nur noch in der Flasche. „Aber Sie können hier Fußball kieken" bot die Frau bzw. vermutliche Inhaberin nun an. Zufällig war auch gerade WM. Und wer Fußball kiekt trinkt meistens auch Bier. Und wer ein Bier trinkt, trinkt meistens auch mehrere Biere, kiekt dann noch mehr Fußball und trinkt noch mehr Bier. So einfach kann ein Geschäftsmodell sein. Aber so einfach wollte ich nicht schon am Nachmittag in die Falle tappen und bestellte einen Kaffee. Es gibt ja heute wesentlich mehr Leute die Fußball kieken als welche die Fußball kicken, also wenigstens wirklich ab und zu auch selber spielen oder gespielt haben. Obwohl mir die völlig überdimensionierte mediale Präsenz dieser Sportart eigentlich mittlerweile auf die Nerven geht, empfand ich das Angebot plötzlich als entspannte Alternative zu all der Kunst. Fußball anschalten – Gehirn ausschalten bzw. im geistigen Sparmodus auf einem bunten Bildschirm schauen, auf dem 2 x 11 Typen irgendwas mit einem Ball versuchen ist ja auch ein weithin beliebtes Feierabendverhalten. Vielleicht handelt es sich mittlerweile sogar um eine neuartige global verbreitete Zivilisationskrankheit mit sozialpsychologischen Ursachen.. Aber das ist nur so ein Verdacht von mir.
Drin im Nebenraum des Cafe Linus jedenfalls war es recht behaglich. Etwa 10 Menschen betrachteten unaufgeregt und meist Bier nuckelnd eine Leinwand auf der die Gelben gegen die Roten spielten, in dem Fall Brasilianer gegen Chilenen. Wie so oft kommen die erfrischendsten Kommentare nicht von Menschen die wenig Ahnung haben sondern von Leuten, die gar keine Ahnung haben. Als nach dem siebten oder siebzehnten Faul einer der Brasilianer eine gelbe Karte bekam, erkannte eine der Anwesenden den Zusammenhang: „aaja die mit den gelben Trikots bekommen die gelben Karten und die mit den roten die roten." So gesehen hatten die Chilenen Glück dass sie gar keine Karten gezeigt bekamen. In der Hundertneunzehnten Spielminute lief eine der lieber draußen Sitzenden durch den flimmernden Nebenraum und staunte „Das ist aber eine lange Nachspielzeit" „Lange Verlängerung" wurde sie freundlich korrigiert. Zwei Frauen kicherten dazu . Ich verstand nicht wieso. Es sollte noch ein Elfmeterschießen folgen, bei dem sich die Chilenen auf den viel schwerer zu treffenden Pfosten konzentrierten .
Dann zahlte ich meinen Kaffee am Tresen und da geschah es tatsächlich. Zwei offensichtlich kulturinteressierte Damen leicht gehobenen Alters betraten das Lokal. Sie schauten sich um und entdeckten ersteimal nichts. Dann bemerkten sie die mit Ornamenten verzierten Fließen auf der linken Seite des Vorderraumes. Sie begannen untereinander ein kunstsinniges Gespräch darüber. Dass diese Fließen nicht für diese 48 Stunden da hingen sondern vielleicht schon 48 Jahre spielte keine Rolle oder machte sie wohl nur noch interessanter. „Sie haben ja doch – also doch Kunst hier" sagte ich zur kassierenden Bedienung. „Also die Fließen das ist doch keine………aber das nächste mal mach ich da noch Fleischerhaken dazu , dann ist es ein Projekt" erwiderte die Tresenkraft lapidar. Die beiden Damen gingen dann auch recht schnell wieder. An der Kunst des unaufgeregten Trinkens oder noch schlimmer des Fußballguckens hatten sie kein Interesse. Außerdem warteten in den nächsten Stunden noch mindestens 48 weitere Kunstprojekte auf ihre Aufmerksamkeit. Auch ich verlies gut gelaunt das Cafe Linus und entschwand in den Rixdorfer Nachmittag.
Mit der Kunst jedenfalls scheint es sich ähnlich wie mit der Schönheit zu verhalten. Sie scheint im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin zu liegen und man verliert ein bißchen den Blick dafür, wenn man zu viel davon serviert bekommt oder vielleicht hat man ja auch noch nie einen dafür gehabt.

www.stephen-blaubach.de

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